Grabesstille
Die Wolken hingen dunkel über dem Friedhof und verdeckten den Mond. Es herrschte eine Grabesstille, nur die Äste raschelten leise im Wind. Überall wuchsen wilde Pflanzen, seit Ewigkeiten hatte sich keiner mehr um den Friedhof gekümmert, nun holte sich die Natur ihr Terrain wieder. Die Grabsteine waren schon alt, sehr alt und schon so verwittert, dass ihre Inschriften teilweise nicht mehr zu entziffern waren. Manche von ihnen waren umgekippt oder waren kurz davor es zu tun.
Doch der Friedhof war nicht ganz verlassen. Nein, jemand war hier!
Vor über 50 Jahren war hier das letzte mal jemand begraben worden und seitdem kam jede Nacht eine wunderschöne Frau hierher. Sie lag vor dem Grabstein ihres Liebsten auf dem Boden und weinte.
Vor ihrem inneren Auge liefen die Geschehnisse noch einmal ab:
* Es war um die Mittagszeit an einem Tag vor über 50 Jahren und die Sonne brannte unerbitterlich auf die Erde, als sie aus ihrem Schlaf hochschreckte. Tief in sich spürte sie, dass etwas schreckliches passiert war. Doch war sie gezwungen in ihrem Sarg zu bleiben, da die Sonne sie sonst zu Staub hätte zerfallen lassen.
Als sie dann gleich nach der Abenddämmerung nach draußen rannte und die Gegend absuchte, da fand sie ihren Liebsten auf der Straße liegend mit durchgeschnittener Kehle und einer riesigen Blutlache um sich herum. Banditen hatten ihn auf der Straße überfallen und ihn anschließend ermordet. Sie brach bitterlich weinend über ihm zusammen und weinte ihren ersten Schmerz und Kummer aus sich heraus. Dann trank sie all sein Blut um eine letzte Erinnerung an ihn zu haben und begrub ihn auf dem alten Friedhof. *
So trauerte sie nun schon seit über 50 Jahren um ihren Liebsten und verdammte die Vergänglichkeit der sterblichen Menschen, gab sich selbst die Schuld an seinem Tod, sie hatte ihn nicht retten können und dafür hasste sie sich. Sie dachte oft an das Leben, welches sie beide hätten leben können, doch das war vorbei, es würde nie passieren. Nie!
Sie stand auf, wischte sich die Tränen vom Gesicht und blickte hinauf zum Mond, der nun durch die Wolken brach und mit seinem Schein den Friedhof beleuchtete.
Nun war die Frau klar zu erkennen sie trug ein schwarzes Samtkleid, welches vorne eine Bandschnürung besaß und überall mit blutroten Rosen bestickt war. Es war sein Lieblingskleid gewesen. Sie hatte hüftlange lockige braune Haare und ein feingeschnittenes wunderschönes Gesicht. Ihre Augen waren violett und stachen bei ihrer weißen Hautfarbe sehr hervor. Der Mondschein kam ihr wie die Hoffnung vor und all ihr Schmerz und Leid wich von ihr. Nur die Erinnerung an ihren Liebsten blieb in ihrem Herzen zurück. Sie lächelte und drehte sich weg von dem Grab, ging davon ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie lies ihre Vergangenheit und ihren Schmerz hinter sich zurück. Sie lächelte und ihre weißen Fangzähne leuchteten im Mondschein hell auf!
Zurück blieb ein Grabstein mit der Inschrift:
William
Geboren / Gestorben
Für alle Ewigkeiten bleibst du in meinem Herzen lebendig!
Wie so oft schon stellte sie sich die eine Frage:
Wofür lebst du, wenn du unsterblich bist?